Die internationale Faszien-Forschung ist ein noch recht junges Fachgebiet, auch das auf diesen aktuellen Erkenntnissen basierende Faszientraining steckt noch in den Kinderschuhen. Aber was mit dem ersten Fascia Research Congress 2007 in Boston begann, ist nun nicht mehr aufzuhalten.
Seitdem die Faszien vom vergessenen Aschenputtelorgan ins Rampenlicht der aktuellen medizinischen Forschung gerückt sind, revolutionieren die neuen Erkenntnisse nicht nur die Sportwissenschaft, sondern auch das Rehabilitations- und Präventionstraining. Somit beginnt für alle Physiotherapeuten, Chiropraktiker und Körpertherapeuten ein neues Zeitalter.
Der lange Weg zur Faszienforschung
Bereits in den 1960 er-und 1970 er-Jahren beschäftigten sich zahlreiche Mediziner und von ihrer Intuition geführten und den damit verbundenen Behandlungserfolgen bestätigten Manualtherapeuten mit dem muskulären Bindegewebe, den sogenannten Myofaszien. Auch Fachbücher zeigten Illustra- tionen der einzelnen Faszien. Es gab damals sogar ein Max-Planck-Institut für Bindegewebsforschung. So war z.B. damals bereits bekannt, dass der Gluteus maximus, mit ca. 40 % seiner Fasern in die Faszia lata zieht. Auch die Tatsache, dass der Biceps brachii mit Teilen seiner Fasern in die Unterarmfaszien übergeht (Lazertus fibrosus), war nicht neu. Eine ähnliche wiederentdeckte Kontinuität im Faserverlauf zeigt auch der Biceps femoris, der sich über das sakrotuberale Ligament in die tiefe Schicht der Lumbodorsalfaszie hinein vernetzt.
Doch als die Molekularbiologie immer populärer wurde, gerieten die Faszien weitgehend in Vergessenheit. Der Durchbruch für die moderne Faszienforschung gelang 2007: Die Wiedergeburt des interdisziplinären Fachgebiets läutete der erste Faszien-Kongress in Boston ein, auch das renommierte Wissenschaftsmagazin Science berichtete äußerst positiv darüber.
Waren vormals die Fleischwissenschaftler führend auf dem Gebiet der Faszienforschung, so führen mittlerweile hochkarätige medizinische Wissenschaftler und Sportwissenschaftler das Feld an. Durch die internationalen Faszienkongresse entwickelte sich ein reger Austausch mit den Manualtherapeuten, wie den Rolfern, Osteopathen, Akupunkteuren und Physiotherapeuten sowie den Bewegungstherapeuten und -lehrern wie den Pilates- und Yogalehrern. Wir können gespannt sein, wie sich die Wissenschaft und die Therapie in Zukunft weiterentwickeln werden. Einige Ansätze sind jetzt schon richtungsweisend und lassen erkennen, dass die Faszienbehandlungen und ein aktives Faszientraining ein ernstzunehmender Bestandteil in der Prävention, Therapie und Rehabilitation sein werden.
Aktuelle Erkenntnisse der internationalen Faszienforschung belegen den wesentlichen Beitrag der Faszien bei Bewegung, speziell zur Kraftübertragung als global-elastisches Spannungsnetzwerk. Überraschend ist die Erkenntnis, dass Faszien vermutlich unser größtes Sinnesorgan ist und über eine Fülle an sensorischen, freien Nervenendigungen und Mechanorezeptoren die Quelle für die Propriozeption, den Körpersinn bilden. Ein gut trainiertes Bindegewebe ist elastisch, reißfest und kräftig zugleich und bildet die Grundlage für die vitale Spannkraft und die körperliche Leistungsfähigkeit.
Was sind Faszien überhaupt?
Der aktuelle Faszien-Begriff, wie er mittlerweile auf den internationalen Kongressen propagiert wird, ist wesentlich umfassender als früher: Man versteht darunter alle kollagenen, faserigen Bindegewebe als Teil des körperweiten Fasziennetzes. Teile davon sind das intramuskuläre Bindegewebe und das Unterhautbindegewebe (Fascia superficialis). Die Gelenkkapseln werden als Verstärkungen von Muskelhüllen, Ligamenten und Sehnen verstanden. Wichtig zu wissen: Faszien umgeben jeden Muskel, jedes Organ und jede Bandstruktur und vernetzen so unseren ganzen Körper. Gesunde Faszien sind lokale Anpassungen an die körperlichen Anforderungen und Bedingungen.
So sind die Maschen dieses Netzwerks locker und zart wie Spinnenfäden, an manchen Bereichen wiederum dicht und straff verwebt. Diese Gewebe-Resilienz gibt uns Form und Kontur, weist eine hohe Zugspannung auf, ermöglicht mühelos gleitende Bewegungen und Bewegungsfreiheit der Gelenke in vielerlei Richtungen und Winkel. Im gesunden Körper bilden die Fasern also eine Art Gewebekontinuum, das ständigen Auf- und Abbauprozessen unterliegt. Eine Besonderheit des Bindegewebes ist seine enorme Anpassungsfähigkeit: Es reagiert auf wiederkehrende Dehn- und Bewegungsbelastungen, indem es seine Länge, Stärke und Gleitfähigkeit verändert. Dabei fungieren die körpereigenen Bindegewebszellen – die Myofibroblasten – als aktive Netzwerker, in dem sie nach einer mechanischen Stimulation mehr Kollagen anlegen oder z.B. bei Bewegungsmangel Kollagen abbauen.
So nimmt bspw. durch das alltägliche Gehen auf zwei Beinen die Oberschenkelfaszie an der Außenseite spürbar an Festigkeit zu. Würden wir uns wie Cowboys über viele Stunden an einem Pferderücken festklammern, wäre es genau umgekehrt: Die Faszie an der Innenseite wäre deutlich stärker ausgeprägt.
Alles in Bewegung – alles im Fluss
Endoskopische Videoaufnahmen der oberflächlichen Faszienschicht (Jean Claude Guimberteau, „Strolling under your Skin“) zeigen, dass einige Faszien zart wie ein Spinnennetz sind, mit durchsichtig schimmernden Fäden und wie mit glänzenden Tautropfen benetzt. Entlang dieser perlenartigen Strukturen gehen immer wieder kleine Fibrillen nahtlos aus großen Fibrillen hervor. Dieses den Körper in jede Richtung durchziehende Gewebekontinuum ist von einer zähflüssigen Substanz durchtränkt, die der Konsistenz und Klebrigkeit rohem Eiweiß ähnelt und aus oben genannten Zuckereiweißverbindungen und Wasser besteht.
Die Gesundheit des Fasernetzes ist unmittelbar an die Gesundheit der Grundsubstanz gekoppelt. Ist diese in Balance (PH-neutral) und in Bewegung, dann sind es auch die Faszien. Hier ist Bewegung alles, die Grundsubstanz muss ähnlich einem Fluss ständig in Austausch und Bewegung sein. Bewegungsmangel, Fehlernährung, Entzündungen und Stress treffen diesen ‚inneren Ozean’ im Kern, was nachhaltige Folgen für die Struktur und Qualität des Bindegewebes nach sich zieht.
- A) Entspannte Position: Die Muskelfasern sind entspannt und der Muskel in normaler Länge. Keines der gezeigten faszialen Elemente wird gedehnt.
- B) Klassische Muskelarbeit: Die Muskelfasern sind kontrahiert, und der Muskel ist insgesamt nicht verlängert. Hier werden die faszialen Gewebe durch Dehnung stimuliert, die mit den Muskelfasern entweder seriell (hintereinander) angeordnet sind oder quer dazu verlaufen.
- C) Klassisches Dehnen: Die Muskelfasern sind entspannt und der Muskel insgesamt verlängert. Es werden jene Fasziengewebe gedehnt, die parallel zu den Muskelfasern angeordnet sind, sowie die extramuskulären seitlichen Verbindungen. Die faszialen Elemente, die seriell zu den hier entspannten Muskelfasern verbunden sind, werden jedoch nicht wesentlich gedehnt.
- D) Aktive Dehnbelastung: Der Muskel ist aktiv und wird zusätzlich im endgradigen Bereich belastet. In dieser Konfiguration werden die meisten faszialen Anteile gedehnt und stimuliert.
Autor: Dr.biol.hum. Robert Schleip, Divo Müller
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