Unwissenheit über die Wirkung von Krafttraining, aber auch die Angst, dem jungen Körper mehr Schaden als Nutzen zuzufügen, führten von der Vergangenheit bis in die Gegenwart zu einer weitgehenden Abstinenz des Muskelkrafttrainings in Deutschland.
Parallel zur Kontroverse um das Krafttraining kam die Diskussion um den schlechten Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich Haltungsschwächen und -schäden auf. Diese vorwiegend muskulär bedingten Haltungsschwächen sind durch ein in der Schule durchgeführten Sportunterricht mit den meist angebotenen Spiel- und Ausdauerkomponenten nicht zu kompensieren.
Um den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen zu verbessern und zu unterstützen, fordern z. B. in Nordamerika große Mediziner- und Sportvereinigungen und deren Verbände, u. a. das „AMERICAN COLLEGE OF SPORTS MEDICINE“, die „AMERICAN ORTHOPAEDIC SOCIETY OF SPORTS MEDICINE“, die „AMERICAN ACADEMY OF PEDIATRICS“ und die „NATIONAL STRENGTH AND CONDITIONING ASSOCIATION“ die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an Krafttrainingsprogrammen, wenn sie altersspezifisch geplant und organisiert sowie durch fachkundige Trainer begleitet werden.
Altersspezifische Besonderheiten
Das „Mark-Jansen-Gesetz“ besagt, dass die Empfindlichkeit des Gewebes sich proportional zur Wachstumsgeschwindigkeit verhält. Demnach ist das Kind bzw. der Jugendliche im Vergleich zum Erwachsenen wesentlich stärker der Gefahr von Belastungsschäden durch unphysiologische Trainingsreize ausgesetzt.
So kommt es zu Beginn der Pubertät zu ausgeprägten Zuwachsraten bezüglich der Muskelmasse aufgrund der hormonellen Veränderungen bei beiden Geschlechtern. Die Testosteronausschüttung wirkt sich bei den Jungen stärker auf die Zunahme der Muskelmasse bzw. Muskelkraft aus als bei den Mädchen. Der Anstieg des Muskelanteils an der Gesamtkörpermasse beim Jungen steigt von 27 % auf durchschnittlich 42 %, im Gegensatz dazu bei den Mädchen nur auf 36 %.
Besondere Bedeutung hat die Verletzungsprophylaxe somit in der Zeit des erhöhten Wachstums (bei Jungen im Alter von 12 bis 14 und bei Mädchen von 10 bis 13) mit der Vermeidung u. a. von akuten ruckartigen Muskelzügen wie z. B. bei exzentrischen Muskelbeanspruchungen mit Bremsbewegungen.
Der passive Halte- und Bewegungsapparat mit seinen Bändern, Sehnen, Knochen und Gelenken kann speziell beim Muskeltraining von Kindern und Jugendlichen eine Schwachstelle darstellen.
Die noch nicht verknöcherten Wachstumszonen besitzen aufgrund ihrer hohen wachstumsbedingten Teilungsrate eine erhöhte Gefährdung gegenüber allen starken Druck- und Scherkräften. Somit sind die Wachstumsfugen das schwächste Glied in der Kette der Elemente des Halte- und Bewegungsapparates und bedürfen bei sportlichen Aktivitäten im Kindes- und Jugendalter besonderer Beachtung.
Durch die noch erhöhte Beweglichkeit der Kinder und die noch niedrige Kraft ihrer Muskeln kann es während der Bewegung zu großen Gelenkwinkeln und so zu einer vermehrten Belastung von Gelenkstrukturen kommen.
Vor allem unphysiologische Belastungen wie Bewegungen, die wiederholt über den normalen Aktionsradius der Gelenke hinausgehen, können die Entwicklung der Gelenke sowie der Gelenkkapsel-Verstärkungsbänder negativ beeinflussen.
Die Tatsache, dass die Leistungsdisposition des kindlichen bzw. jugendlichen Organismus im Bereich des Halte- und Bewegungsapparates in dieser Zeit gemindert ist, spricht jedoch nicht gegen, sondern für die Notwendigkeit einer Kräftigung der Muskulatur.
Trainingsauswirkungen
Der kindliche Bewegungsapparat ist besonders sensibel für Trainingsreize. Diese „sensiblen Phasen“ sollten nicht nur zur Leistungsoptimierung sondern auch zur Verbesserung der allgemeinen Grundlagen für die spätere Weiterentwicklung ausgenutzt werden.
Grundsätzlich kommt es bereits zu Beginn eines Krafttrainings innerhalb kürzester Zeit zu einer Kraftzunahme. In den vorliegenden Untersuchungen wurden in Abhängigkeit vom Untersuchungsdesign Kraftzuwächse von 5 % bis 82 % erreicht.
Allerdings ist die Kraftzunahme nicht auf eine Muskelmassenzunahme (Muskelhypertrophie) zurückzuführen, sondern man vermutet, dass aufgrund des Mangels an adäquater Hormonausschüttung im Kindesalter die trainingsbedingten Kraftzuwächse im Wesentlichen auf neuromuskulären Anpassungen beruhen.
Ein vorschriftsmäßig ausgeführtes Krafttraining kann ein effektiver Stimulus für die Knochenentwicklung des jüngeren Kindes oder Jugendlichen sein kann. Über die Zug- und Druckbeanspruchungen bei der muskulären Betätigung werden formative Reize und damit Adaptationserscheinungen des Knochens ausgelöst.
Ohne adäquate Kraftbelastungen fehlen dem Heranwachsenden wirksame biologische Reize für Wachstum und Entwicklung.
Ein Krafttraining begünstigt die Entwicklung der konditionellen und koordinativen Fähigkeiten sowie der sportartspezifischen Leistungen, das zeigt sich parallel zum gesteigerten Kraftniveau auch in einem verbesserten Bewegungsverhalten bei Kindern.
Des Weiteren ist ein Krafttraining im Sinne der Körperentwicklung und der Haltungsprophylaxe im Zusammenhang mit dem immer früher beginnenden sportartenspezifischen Training bei Kindern sinnvoll. Ausgehend von der funktionellen Einheit der aktiven und passiven Strukturen des Halte- und Bewegungssystems ist abzuleiten, dass nur eine harmonisch entwickelte Gesamtkörpermuskulatur die physiologische Körperhaltung und die muskuläre Absicherung von Wirbelsäule bzw. Gelenken gewährleisten und somit Haltungsfehlern sowie vorzeitigen Verschleißerscheinungen bzw. Schädigungen des Binde- und Stützgewebes vorbeugen kann.
Ein Krafttraining im Kindes- und Jugendalter kann die Verletzungsanfälligkeit um 50 % senken und verringert die Wiederherstellungszeit nach einer Verletzung. Eine entscheidende Rolle spielt dabei, dass Krafttraining durch Steigerung der Knochendichte und -härte sowie Erhöhung der Zugfestigkeit des Bindegewebes einen positiven Einfluss auf Knochen, Bänder und Sehnen ausübt.
Wegen der positiven Einflüsse auf Ausdauerleistung, Blutfettwerte, Knochenentwicklung, muskuläre Dysbalancen usw. kann das Krafttraining im Sinne einer Prävention zur Vorbeugung der sog. Zivilisationskrankheiten gesehen werden.
Risiken und Gefahren
Die beim Krafttraining auftretenden Belastungen sind zum Großteil geringer als unkontrollierte Belastungen, wie sie in den meisten Spielsportarten oder den alltäglichen Bewegungsspielen der Kinder vorkommen. Statistiken zur Verletzungshäufigkeit beim Krafttraining beweisen, das nicht der Knochen, sondern das weiche Gewebe, wie Muskeln und Sehnen, im Vordergrund steht.
In einer Übersichtsstudie, die 12 Untersuchungen mit 491 Teilnehmern analysierte, fanden sich bei einer Studiendauer zwischen 8 Wochen und 15 Monaten, zwei leichte Muskelzerrungen im Schulterbereich und eine Verletzung durch ein umgekipptes Gestänge. Alle Verletzungen waren harmlos und hatten einen Trainingsausfall von maximal einer Woche zur Folge. Durch entsprechende Trainingsgestaltung können auch Verletzungen dieser Art ausgeschlossen werden, da sie meist durch Überbelastungen entstehen.
Dennoch stellt das aktive Verhalten des Kindes einen allgemeinen Risikofaktor dar. Selbstverständlich soll durch den Sport die körperliche Aktivität gefördert werden, aber zum Krafttraining gehört ein gewisses Maß an Disziplin.
Den Kindern und Jugendlichen muss das Risikopotenzial dieser Belastungsform bewusst sein und das beinhaltet eine emotionale Reife, die letztlich über eine Teilnahme oder den Ausschluss am bzw. vom Krafttraining entscheiden muss. Auch aus Gründen einer nicht kontrollierbaren Belastung wird ein „spielerisch“ angebotenes Krafttraining zur Entwicklung der Muskelkraft weltweit von den meisten Experten abgelehnt.
Zusammenfassung
In den letzten 10 Jahren ist es durch viele Untersuchungen gelungen, die positiven Effekte des Krafttrainings im Kindes- und Jugendalter eindrucksvoll zu belegen.
In den meisten Veröffentlichungen zum Krafttraining mit Kindern und Jugendlichen wird betont, dass Kinder und Jugendliche keine kleinen Erwachsenen seien und demnach auch keine reduzierten Trainingsprogramme von Erwachsenen zu absolvieren hätten.
Schaut man sich unter diesem Aspekt die vorgestellten Übungen an, so fällt auf, dass praktisch bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Kreuzheben) alle Übungen aus dem Erwachsenenbereich übernommen sind. Da sich der anatomische Verlauf der Muskeln durch das Wachstum nicht verändert und auch die Physiologie der Muskulatur zwischen Erwachsenen und Kindern nur geringfügig unterscheidet, ist diese Übungsauswahl durchaus gerechtfertigt.
Die Aussage bezüglich des reduzierten Erwachsenentrainings bezieht sich also nicht auf die Übungsauswahl, sondern in erster Linie auf die Organisation und Durchführung des Trainings.
Ein Kind hat in der Regel noch nicht die Reife, das vollständige Programm eines Erwachsenen z. B. mit den nötigen Pausen exakt durchzuführen. Demnach muss die Organisationsform neben medizinischen und trainingswissenschaftlichen Aspekten auch unter pädagogischen Gesichtspunkten konzipiert werden.
Dieser große Unterschied zwischen dem Krafttraining mit Kindern und Jugendlichen und mit Erwachsenen bedeutet für die Praxis, dass in erster Linie eine viel intensivere Betreuung und Beobachtung der Teilnehmer und auch eine ständige gegenseitige Rückmeldung über Erfolg und Misserfolg, dem persönlichen Empfinden usw. erfolgen muss. Nur so kann ein dem jeweiligen Leistungs- und Reifezustand entsprechendes Training aufgebaut werden.
Autor: Dr. med. Michael Siewers
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