Stressfrakturen im Sport

Eine Stressfraktur ist definiert als ein Ermüdungsbruch eines gesunden Knochens auf submaximale, wiederholte Belastung. Sie ist somit von einer Insuffizienzfraktur abzugrenzen, welche bei abnormer ­Dichte und Struktur des Knochens auftritt und von einer pathologischen Fraktur, welche bei Tumorwachstum zustande kommt. Im Grunde ist die Stressfraktur schon sehr früh beschrieben worden und zwar von Breithaupt in der Medizinischen Zeitung im Jahre 1855. Er beschrieb bei preußischen Soldaten Frakturen am 5. MT nach langen Märschen, weshalb die Frakturen auch Marschfrakturen genannt werden.

Soldaten und Sportler betroffen

Soldaten stellen die erste Gruppe dar, bei denen Stressfrakturen typischerweise auftreten. Die Zweite sind Sportler und hier vor allem Langstreckenläufer oder Sprinter. In einer ­prospektiven Kohorten­studie bei Sportstudenten über 12 ­Monate waren 21?% der Lang­streckenläufer davon betroffen.

Die 13-jährige Tanja hat schon seit mehreren Monaten beim Langstreckentraining Schmerzen im Unterschenkel. Der Hausarzt vermutet eine Sehnenreizung bei der schlanken Leistungssportlerin und behandelt über mehrere Wochen mit entzündungshemmenden Medikamenten. Ohne Erfolg. Die Schmerzen treten nun auch bei Alltagsbelastungen auf, sodass Tanja zum Orthopäden überwiesen wird. Dieser veranlasst nach einer gründlichen Untersuchung und einem Röntgenbild (das keinen Weg weisenden Befund zeigt) eine Magnetresonanztomographie (MRT), da die Schmerzen vor allem vom Knochen zu kommen scheinen. Er möchte unter anderem schlimmere Knochenentzündungen oder Tumore ausschließen. Die Bilder der MRT-Untersuchung bringen dann die Diagnose: Tanja hat eine Stressfraktur im Schienbein!

Warum kommt es zu einer Stressfraktur?

Wenn ein Knochen wiederholt physiologischen Belastungen ausgesetzt ist, dann sind diese Belastungen um den Faktor 10 niedriger als die Kraft, die für einen Knochenbruch nötig sind. Durch eine vermehrte physiologische Belastung werden im Knochen Umbauvorgänge eingeleitet. In diesem Rahmen kommt es zunächst zu Resorptionen durch Osteoclasten und dann zu einem Knochenum- und -aufbau durch Osteoblasten. Dies dauert ca. 3?–?4 Monate.

Wird in dieser verletzlichen Phase der Knochen immer ­wieder belastet und übersteigen die Frequenz, Intensität und Gesamtzahl der Belastungen die natürlichen Reparatur­mechanismen, führt dies zu Mikrotraumata, was in der MRT als Stressreaktion sichtbar wird. Bei Fortsetzen der Belastung kann es zu einer Stressfraktur bis hin zur kompletten Dislokation des Knochens kommen. Es handelt sich also um ein Kontinuum von Knochenumbau bis zur Fraktur. Leit­symptome sind belastungsabhängige Schmerzen im Frakturbereich, es können aber auch Ruheschmerzen und Schwellungen auf­treten. Allerdings sind nicht alle Sportler davon betroffen. Es muss also Risikofaktoren geben, die der Arzt kennen sollte, um präventiv tätig werden zu können. Risikofaktoren können in extrinsische, d. h. von außen beeinflussbare und intrinsische, d. h. durch das Individuum bestimmte, unterteilt werden

Extrinsische Risikofaktoren

Schaut man auf die Sportarten, so sind es aufgrund der ­repetitiven Belastungen vor allem Langstreckenläufer, aber auch Sprinter, bei denen kurzzeitig starke Belastungen auftreten können. Bei bis zu 86 % der Sportler mit Stressfrakturen ­konnte eine Intensivierung der Trainingsgewohnheiten in der Vor­geschichte eruiert werden. Es gibt jedoch keine groß angelegten Kohortenuntersuchungen, wie viele Sportler nach Veränderung der Trainingsgewohnheiten eine Stressfraktur erleiden.

Es liegt wegen der Pathogenese auf der Hand zu versuchen, die Belastung auf den Knochen z.?B. durch Einlagen oder ­gefederte Schuhe zu beeinflussen. Leider sind die Daten zu diesem Thema sehr widersprüchlich: Dämpfungseinlagen konnten prospektiv erfasst bei Soldaten keine Verminderung der Inzidenz bewirken. Maßgefertigte Orthesen konnten ­diesen Effekt 1999 in einer prospektiven, randomisierten und kontrollierten Studie von Finestone bewirken, 2004 dann von derselben Forschungsgruppe wieder nicht.

Milgrom konnte 2003 nachweisen, dass die Benutzung eines Laufbands im Vergleich zum Laufen auf Asphalt die Belastung auf die Tibia signifikant reduzieren kann. In großen epidemiologischen klinischen Studien ließ sich aber kein ­Unterschied abhängig vom Bodenbelag nachweisen. Dies mag auf das Studiendesign zurückzuführen sein, aber auch auf die Tatsache, dass auf weichem Boden wie Sand eine größere Muskelbelastung und damit Muskelermüdung vorhanden ist, was die Belastung auf den Knochen trotz des weicheren ­Bodens erhöhen kann.

Intrinsische Risikofaktoren

Muskulatur ist ein protektiver Faktor und dient als Puffer und Dämpfer bei Belastungen. Sowohl die Muskelermüdung als auch die Menge an Muskel spielt dabei eine Rolle. Das Risiko für eine Stressfraktur sinkt, wenn Knochendicke und -menge zunimmt. Ebenso können biomechanische Faktoren eine ­Rolle spielen. So kann ein Laufstil mit vermehrter Knie­beugung die Belastung des Schienbeins reduzieren.
Bei Soldaten ließ sich prospektiv nachweisen, dass eine sportliche Betätigung vor der Grundausbildung das Risiko für eine Stressfraktur signifikant reduzieren kann. Gründe dafür sind wahrscheinlich die positiven Effekte des Trainings auf die Knochen.

Das Geschlecht spielt auch eine Rolle: Frauen haben ein 10?x höheres Risiko eine Stressfraktur zu erleiden. Der Hauptgrund dafür ist wahrscheinlich eine ungenügende Kalorien­zufuhr, möglicherweise bedingt durch eine Essstörung, welche Menstruationsstörungen verursachen kann und den Knochenaufbau stören kann.

Diagnose und Therapie

Um eine Stressfraktur diagnostizieren zu können, benötigt man als Basisdiagnostik Röntgenbilder. Der Bruch wird ­jedoch in der Frühphase noch nicht sichtbar sein. Zu empfehlen ist daher eine Skelettszintigraphie oder eine MRT-Unter­suchung. Nur bei früher Diagnoseerstellung kann eine konsequente Therapie eingeleitet und gute Behandlungsergebnisse erreicht werden. Die Behandlung ist im Prinzip nicht schwierig, kann jedoch sehr langwierig sein. In der Regel besteht die konservative Therapie aus einer Entlastung der betroffenen ­Extremität für einen Zeitraum von mindestens vier Wochen. Manchmal genügt eine Trainingspause, wobei bei nicht konsequenter Behandlung eine Verschleppung und Verschlimmerung der Erkrankung droht. Seltener wird mittels einer zusätzlichen Ruhigstellung im Gips oder Tape-Verband therapiert. Bei drohender oder stattgefundener Dislokation des Knochens muss der operativ mit einer Osteosynthese, z.?B. einer ­Schraube oder Marknagel fixiert werden. Bei einem Tennisspieler wurde eine drohende Faktur am Ellenhaken auch mit einer Zug­gurtungsosteosynthese behandelt.

Die konservative Therapie ist als Standardtherapie anzu­sehen und sollte eine suffiziente Entlastung beinhalten. Nur wenn sich dies nicht durch eine reine Entlastung erreichen lässt, ist aus meiner Sicht eine Ruhigstellung im Gips ­indiziert. Die Gipsbehandlung kann aber auch bei unzureichender ­Mitarbeit seitens des Patienten indiziert sein. Von großer ­Bedeutung erscheint die ausreichend lange Therapiedauer mit einem anschließend graduell gesteigerten Belastungsaufbau
zu sein.

Was wurde aus Tanja?

Die Leistungssportlerin erhielt von ihrem Orthopäden für 4 Wochen Unterarmgehstützen, um das betroffene Bein zu entlasten. Ferner wurde die entzündungshemmende Medikation fortgesetzt, vom Physiotherapeuten bei akuten ­Schmerzen Eis angewendet und eine Schwellung mit Lymphdrainage behandelt. Nach 4 Wochen konsequenter Entlastung ließ Tanja die Unterarmgehstützen weg und belastete im Alltag ohne Einschränkung.

Erst als sie nach 3 weiteren Wochen im Alltag beschwerdefrei war, begann sie unter sporttherapeutischer Anleitung wieder in ein dosiertes Aufbautraining. Da Tanja für ihr Alter sehr schlank war, suchten die Eltern mit Tanja eine Ernähungspsychologin auf, um frühzeitig auf eine Essstörung reagieren zu können. Nach 5 Monaten war alles ausgestanden und Tanja wurde Bezirksmeisterin über 1.000m.

Autor: Dr. med. Philip Kasten

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